Schulpflicht schon für Dreijährige
Der Kanton Thurgau darf Eltern nicht zur Kasse bitten, wenn er Dreijährige zur Sprachförderung einteilt. Das Urteil des Bundesgerichts hat weitreichende Folgen. Anja Burri
Frühförderung liegt im Trend. Immer mehr Kantone bieten Sprachkurse für Kinder ab drei Jahren an, manche sogar obligatorisch. Das Ziel: eine bessere Chancengerechtigkeit. Diese Woche hat das Bundesgericht nun ein Urteil veröffentlicht, das dieses neue System prägen wird. Und das darüber hinaus weitreichende Konsequenzen für Eltern und Kinder im ganzen Land haben könnte.
Worum geht es? Der Kanton Thurgau hat ein Frühförderungssystem eingeführt, das Eltern stark verpflichtet. Diese müssen die Sprachfähigkeiten ihrer dreijährigen Kinder erheben. Weist ein Kind Defizite auf, muss es vier bis sechs Stunden pro Woche einen Förderkurs besuchen, meist in einer privaten Spielgruppe oder in einer Tagesfamilie. Für den Transport der Kinder und die daraus entstehenden Lohneinbussen müssen die Eltern selber aufkommen. Zudem können die Schulgemeinden die Eltern für die Fördermassnahme zur Kasse bitten – mit bis zu 800 Franken pro Jahr.
Doch damit ist es nun vorbei. Drei Privatpersonen haben gegen den entsprechenden Beschluss des Thurgauer Kantonsparlaments vor Bundesgericht Beschwerde eingereicht. In einem bemerkenswerten Urteil zwingen die Lausanner Richter den Kanton, auf die Elternbeiträge zu verzichten. Das Hauptargument: Weil die Frühförderung für Betroffene obligatorisch ist, gehört sie zur obligatorischen Grundschule. Und dafür darf der Staat kein Geld verlangen. Denn die Bundesverfassung garantiert das Recht auf unentgeltlichen Grundschulunterricht.
Gespräche mit Juristen und Bildungsfachleuten zeigen, wie weitreichend der Entscheid ist. Er dürfte verschiedene Auswirkungen haben, die Eltern und Kinder in der ganzen Schweiz betreffen:
- Eltern müssen für obligatorische Frühförderung nichts bezahlen.
- Die Schulweg-Frage erhält neue Brisanz: Es dürfte für Eltern leichter werden, von der Gemeinde Transportkosten einzufordern.
- Das Schulferien-Regime gilt je nachdem bereits für Dreijährige.
- Gymnasiasten und Lehrlinge in gewissen Kantonen könnten Staatsgelder für Unterrichtsmaterialien und Ähnliches einfordern.
Wie eine Umfrage dieser Zeitung zeigt, sind neben dem Thurgau weitere Kantone vom Urteil direkt betroffen. In Luzern und Graubünden können Gemeinden für obligatorische Frühförderung Geld von den Eltern verlangen. Der Kanton Luzern schreibt, man werde den entsprechenden Gesetzesabschnitt bei einer nächsten Revision überprüfen. Und in Graubünden heisst es: «Über allfällige Konsequenzen dieses Bundesgerichtsurteils auf diese Angebote müssen die entsprechenden Gemeinden entscheiden.»
In Solothurn soll die frühe Sprachförderung nächstes Jahr flächendeckend eingeführt werden. Weil in Solothurn aber niemand zur Frühförderung gezwungen wird, dürfen Elternbeiträge verlangt werden. Einen anderen, ebenfalls verfassungskonformen Weg wählen die beiden Basel: Basel-Stadt verpflichtet Eltern zur Frühförderung, allerdings ist diese kostenlos. In Baselland entscheidet das Kantonsparlament nächstens über ein ähnliches Modell. Im Aargau oder in Schaffhausen wird intensiv über die Einführung eines flächendeckenden Frühförderungssystems nachgedacht. In Zürich ist die frühe Sprachförderung Aufgabe der Gemeinden.
Ein weiterer interessanter Aspekt des Urteils betrifft den Schulweg. Die Lausanner Richter schreiben: Der Kanton Thurgau sei gehalten, «die ortsnahe und angemessene Erreichbarkeit der obligatorischen Angebote in der jeweiligen Schulgemeinde sicherzustellen oder aber für die Transportkosten aufzukommen». Valentin Huber ist einer der drei Beschwerdeführer. Der Jurist und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Thurgau zeigt sich auf Anfrage überrascht von der Klarheit des Urteils, gerade auch zum Schulweg. Für Dreijährige sei ein Schulweg relativ rasch unzumutbar – etwa wenn eine grössere, befahrene Strasse überquert werden müsse.
Weniger Freude dürften die betroffenen Eltern am Urteil des Bundesgerichts haben, wenn es um ihre Ferienplanung geht. Indem die Richter die obligatorische Frühförderung zur obligatorischen Grundschule zählen, implizieren sie auch, dass Kinder nicht ohne weiteres dem Unterricht fernbleiben können – etwa für Ferien ausserhalb der Schulferien. «In diesem Punkt wird die persönliche Freiheit der Eltern verhältnismässig eingeschränkt», sagt Valentin Huber.
Schliesslich wirft das Urteil Fragen zur Ausbildung der Gymnasiasten oder Lehrlinge auf. Bereits zwei Kantone, Genf und das Tessin, kennen ein Ausbildungsobligatorium für Jugendliche bis 18 Jahre. Sie stufen die Ausbildung auf der Sekundarstufe II als matchentscheidend ein für die ökonomische Selbständigkeit der jungen Menschen.
Valentin Huber rechnet damit, dass die Argumentation des Bundesgerichts für den Thurgauer Frühförderungsfall auch hier greifen dürfte: «Wenn ein Kanton die Sekundarstufe II faktisch für obligatorisch erklärt, gilt somit auch das von der Verfassung geschützte soziale Grundrecht auf obligatorische und unentgeltliche Bildung», sagt er. Etwa für Schulbücher oder Arbeitsmaterialien der Lehrlinge müsste konsequenterweise der Staat aufkommen.
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